Neulich hab ich mal wieder ein neues Konzept gelernt. Ich wundere mich noch immer darüber, aber das ist bei mir ja nichts Neues. Was ich also gelernt habe ist die Idee der “cultural appropriation”, was ich jetzt mal als “kulturelle Aneignung” übersetze. Vielleicht hat ja irgendwer das irgendwo schon anders übersetzt aber ist ja auch egal. Also, kulturelle Aneignung …
… ist die Idee das man sich aus anderen Kulturen irgendwelche Elemente hernimmt, mehr oder weniger klaut, und sie verwendet. Da ich das an sich nicht schlimm finde, war ich erst einmal überrascht, dass das Ganze hier als etwas politisch sehr Unkorrektes angesehen wird.
Bei der Definition muss ich noch etwas nachlegen, von kultureller Aneignung spricht man nur dann, wenn eine dominante Kultur etwas von der Kultur der Minderheiten übernimmt, nicht wenn es sich um zwei sozusagen gleichgestellte Kulturen handelt (ob Pizza in Deutschland nun kulturelle Aneignung ist oder nicht, lassen wir jetzt mal undiskutiert).
Hier die Geschichte, die mein Nachdenken über das Thema und damit auch diesen Blog ausgelöst hat.
Ein Mädel, eine Weisse, hat für ihre Abschlussfeier an der Highschool ein chinesisches Kleid getragen. Eines dieser engen Teile mit vielen Knöpfen in rotem Stoff, die sehr hübsch an jungen Dinger aussehen und garantiert sehr unbequem zum Sitzen sind. Wie dem auch sei, sie fand es schön und zog es an. Es kam zum Eklat, ihr wurde kulturelle Aneignung vorgeworfen, “meine Kultur ist nicht dein verdammtes Abschlussfeier-Kleid” war eine der Reaktionen. Sie verteidigte sich, sagte es sei ein schönes Kleid und es sei keine Respektlosigkeit gewesen, dass sie es getragen hat, sondern auch ein Zeichen ihrer Hochachtung für die chinesische Kultur.
Trotzdem, die Entrüstung war gross.
Das erste, was mir dazu einfiel war “Geht’s eigentlich noch?”
Dann dachte ich darüber nach, ob es mir was ausmacht, wenn sich Leute aus anderen Kulturen typisch deutsche Sachen anziehen, also, stereotypischerweise ein Dirndl oder eine Lederhose. Und das geht mir, wenn ich das jetzt mal so unverblümt sagen kann, völlig am Arsch vorbei. Wenn ich mich über jeden Nicht-Bayer (denn Preussen dürfen ja eigentlich auch keine Lederhose/kein Dirndl tragen) aufregen würde, der eine Lederhose/die ein Dirndl trägt würde ich mich von morgens bis abends nur aufregen müssen und ganz besonders zur Oktoberfestzeit.
Ausserdem stellt sich die Frage, was typisch für eine Kultur ist. Gibt es zum Beispiel – wenn man von traditionellen indianischen Gewändern einmal absieht – amerikanische Bekleidung? Ich würde dazu spontan sagen: “Jeans und T-shirt, vielleicht noch Baseballkappe, Turnschuhe”. Ist es also kulturelle Aneignung, wenn ein ein Inder so rumläuft, oder nur dann, wenn ein Inder so in Indien rumläuft, weil da die dortige Kultur dominant ist und deshalb die amerikanische untergeordnet? Oder kann die amerikanische Kultur niemals untergeordnet sein, weil sie ja mittlerweile überall ist? Wie ist es dann mit der deutschen? Oder trifft es nur auf Teile der Kultur zu, also Baguette gibt es praktisch überall zu kaufen, aber Baskenmützen sind eher selten. Ist es also okay in Japan Baguettes zu essen, da sie nicht “Minderheitenstatus” haben, aber nicht okay eine Baskenmütze anzuziehen, denn das wäre kulturelle Aneignung?
Das Beispiel zeigt schon: es geht ja nicht nur um Kleider. Um wieder auf die Pizza zurückzukommen, darf man denn Elemente einer Küche, in die andere einfliessen lassen oder ist Zitronengras in der Hühnersuppe schon kulturelle Aneignung? Wenn ja, ist die gesamte California Cuisine nichts als eine einzige grosse kulturelle Aneignung, wo doch “Fusion” verschiedener Kochtraditionen und Küchen sozusagen ihr Merkmal ist.
Kinntattoo – Kulturelle Aneignung oder einfach nur schlechter Geschmack?
Noch eine andere Geschichte, um zu zeigen, dass es sich nicht nur um eine typisch amerikanische Sache handelt. Neulich ging das Bild einer weissen, blonden Frau aus Neuseeland durch die Presse, die sich ein Symbol der Maori auf ihr Kinn hat tätowieren lassen (Zusatzinfo: ihr Mann stammt von Maori ab). Ich finde das sieht völlig daneben aus, aber ich bin ohnehin kein grosser Fan von Gesichtstattoos (regelmäßige Leser meines Blogs ahnen schon was jetzt kommt: natürlich gibt es eine Ausnahme zu dieser Regel, das supersexy Tattoo von Chakotay of Star Trek Voyager).
Hätte ich mir das machen lassen? Im Leben nie! Sieht das gut aus? Eher nicht so. Ist es etwas merkwürdig wenn eine Weisse mit einem Maori Kinntattoo durch die Gegend rennt? Ja, schon. Hat sie sich damit über die Maorikultur lustig gemacht? Wohl eher nicht. Das wäre doch ein sehr aufwendiger und unumkehrbarer Scherz auch auf Kosten ihres Mannes. Glauben Menschen jetzt, dass sie Maori ist? Ganz bestimmt nicht, sie sieht eher skandinavisch aus. Hilft ihr das mit ihrem Geschäft? Ich weiss ehrlich gesagt nicht. Sie hat eine Art Lebensberatung, ich würde eher nicht zu jemandem gehen, der die Entscheidung trifft, sich das Kinn tätowieren zu lassen.
Die andere Seite
Natürlich gibt es auch noch eine andere Seite und eine andere Interpretation. Wie immer. Kritiker sagen, dass kulturelle Aneignung dann ein Problem ist, wenn eine dominanten Kultur etwas von einer marginalisierten Kultur (und dass die Maori marginalisiert sind, steht wohl kaum zur Debatte, bei der chinesischen find ich das schon eher zweifelhaft) übernimmt ohne zu fragen oder gegen den Widerstand der angeeigneten Kultur. Problematisch ist das vor allem dann, wenn etwas, was der einen Kultur sehr wichtig ist (die Kinntattoos sind wohl ein sehr wichtiger Bestandteil der Maorikultur und enthalten Information über die Familien, Stamm etc, denen die Frauen entstammen) für Spiel und Spass oder ohne jede Einsicht in die Kultur und die Herkunft übernommen wird. Das versteh ich nun wieder. Ich fand schon vor vielen Jahren bestimmt Fasnachtsverkleidungen problematisch, z.B. Indianer oder eben Chinesen. Da wird die Linie zwischen “ich zieh das an, weil es schön ist, und mich die Kultur interessiert” und “ich zieh das an, weil es schön ist, und was dahintersteckt kümmert mich nicht” oft auf der falschen Seite gekreuzt.
Das Problem ist die Linie und wo genau sie ist. Den Unterschied macht die Einstellung des “Aneigners”. Tage ich Dreadlocks weil mir, was auch immer dahinter steckt wichtig ist oder weil es die neuste Mode ist. Ziehe ich ein chinesisches Kleid, einen indischen Sari oder eine besticktes Kleid aus Yucatan an, um die Kultur zu feiern (ich hab schon viele Male Saris getragen und nie Probleme mit den Indern bekommen) oder weil ich auffallen will oder gern eine bisschen Klamauk möchte.
Natürlich sind Absichten immer schwer zu ergründen und im Nachhinein kann man Vieles schön reden. Das Mädel im chinesischen Kleid, da könnte ich fast wetten, hatte nicht vor, der chinesische Kultur Respekt zu zollen mit ihrem Outfit. Die Erklärung klang im Nachhinein aber gut. Auf der anderen Seite glaube ich auch nicht, dass es darum ging sich über die chinesische Kultur lustig zu machen. Sie hat halt einfach nicht gross nachgedacht, wie das für Teenager so üblich ist. Ob das nun hüben oder drüben von der Linie ist, weiss ich ehrlich nicht zu sagen.