Da leb ich nun also in Kalifornien, als Expat/Auswandrerin und schäme mich für den offensichtlichen und schamlosen Rassismus (von den anderen -ismen mal ganz abgesehen) vieler Amerikaner. Mexikaner sollen raus, keine Flüchtlinge aufnehmen und die schwarze und braune Bevölkerung im eigenen Land würde man am liebsten auch in Ghettos sehen. Wenn alles schön einheitlich weiss ist, wird alles gut – angeblich. Dann lese ich hier die Kommentare in der “Welt” zum Thema “umgekehrte Flucht” und verzweifle nicht nur an den Amis sondern an der Menschheit.
Anlass zur Lektüre der Welt war ein Bericht in Panorama gestern Abend in dem beschrieben wurde wie Syrer illegal zurückflüchten in die Türkei, da sie dort mit ihren Familien wiedervereint sind aber hier in Deutschland keine Familienzusammenführung bekommen. “Umgekehrte Flucht” also.
Zwei oder drei Einzelschicksale wurden beschrieben, Männer, die zurückwollen, zu ihren Frauen oder Verlobten, ein junger Mann, der nach drei Jahren seine Mutter wiedersehen wollte (fand ich als Mutter jetzt sehr anständig von dem jungen Kerl). Diese Menschen – und zwar zunehmend viele – reisen nach Griechenland und zahlen dann Schleuser ca. 200 Euro, um bei Nacht und Nebel mit einem Schlauchboot über den Fluß Evros illegal in die Türkei, meist Istanbul, zu kommen. Einer ist mir besonders in Erinnerung – ihm gefiel es in Deutschland, er hatte eine Lehrstelle als Frisör bekommen, wollte die Lehre fertig machen, wollte arbeiten. Aber die Frau darf nicht kommen. Der andere beschreibt, wie er in Istanbul eine Arbeit gefunden hat und jetzt seine Verlobte heiraten wird. Das wollte er auch in Deutschland: arbeiten und seine verlobte heiraten. Das sind keine übertriebenen Forderungen, da sprach keiner davon eine hundertköpfige Sippschaft nachkommen zu lassen, da war von Arbeit die Rede, davon die Frau, die er leibt heiraten zu können.
Fand ich interessant, unerwartet, ein bisschen traurig. Fand auch, dass der eine schon ganz ordentlich Deutsch sprach, dafür, das er erst zwei Jahre hier war. Ich hab mich dann an meine eigenen Versuche erinnert, Chinesisch zu lernen. Das war eine Katastrophe, völliger Fehlschlag. Arabisch soll ähnlich schwer sein, Deutsch gilt nicht gerade als leicht. Da war einer, der wollte sich integrieren, hier mitmachen, arbeiten, Steuern zahlen, ein normales Leben leben.
Ich dachte mir, dass das eine interessante Geschichte ist, die man auch für eine amerikanische Publikation, ich dachte an CitizenTruth.org, schreiben könnte und setzte mich also an den Computer, um noch ein bisschen mehr herauszufinden.
Und so landete ich bei einem Artikel der “Welt“. Der war recht neutral geschrieben und unten konnte man dann an einer Umfrage teilnehmen, ob Familienzusammenführung wichtig ist, oder ob sich das Deutschland nicht leisten kann. Bevor ich solche Dinger anklicke, überlege ich immer erst, wie das Ergebnis aussehen könnte, ich versuche also sozusagen, das Sentiment des abstimmenden Volks zu erahnen. Ich dachte, die meisten liegen irgendwo so zwischen “wichtig” und “nicht leisten können”. Dann klickte ich und die Antwort war: 3% fanden es wichtig, 6% lagen mittendrin und 91% fanden, dass sich Deutschland das nicht leisten kann.
Volksseele mal wieder völlig falsch gedeutet.
Fiese Kommentare zum Thema umgekehrte Flucht
Dann die Kommentare. Ich hab nicht alle 391 gelesen, aber die, die ich gelesen habe reichten mir auch völlig. Der Tenor war durchgängig: sollen alle abhauen, besser heute als morgen, Sozialschmarotzer, Ausnützer, sollen doch Syrien wieder aufbauen und uns hier nicht nerven mit ihren leidigen Geschichten. ARD kann man eh nicht glauben (im Sinne vom trump’schen “Fake News”), da strömen jeden Tag tausende rein und hier wird so ein Wirbel gemacht wegen ein paar die endlich und glücklicherweise wieder abhauen.
Sagt mal, Leute, geht’s noch? Schon mal Bilder dieser völlig zerstörten Städte gesehen, was von Giftgasangriffen gehört? Wie soll man da heim und was aufbauen, wenn am nächsten Tag die Russen, die Amis, die eigene Regierung mal eben noch ein paar Raketen abschiessen und alles was noch steht platt macht? Da sind Leute vor drei Jahren geflüchtet mit einem Bündel und dem, was sie am Leib trugen. Haben sich auf eine lange und gefährliche Reise begeben, die für einige/viele tödlich endete, um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder zu retten. Schon vergessen, wie die Leiche eines ertrunkenen kleinen Buben an einem Strand angespült wurde? Ich als Mutter kann das nicht vergessen, will das nicht vergessen, darf das nicht vergessen.
Erinnert uns das nicht vielleicht an etwas, schon ein paar Jahrzehnte her, als Deutsche flüchteten vor einem Massenmörder mit völkischen Wahnvorstellungen. Habt ihr alle, die da so fiese Kommentare zum Thema umgekehrte Flucht schreibt, Euch nie aufgeregt, dass die andere Länder jüdische Flüchtlinge nicht aufgenommen haben, dass es die, die es geschafft hatten manchmal so schwer hatten, oder wo sie waren Fuss zu fassen, weil man ihnen massenweise Hindernisse in den Weg legte? Habt ihr Euch nie vorgestellt, wie es ist, wenn man bei Nacht und Nebel sein Haus und alles was man besitzt und kennt verlassen muss, um irgendwo anders in der Ferne überleben zu können?
Das Ganze kommt dann auch pünktlich zu Yom HaShoah – dem jüdischen Holocaust Gedächtnistag.
Schuld nein, Verantwortung ja
Bevor sich hier jemand aufregt: ich weiss, das die überwiegende Mehrzahl der jetzt lebenden Deutschen keine Schuld am Holocaust trägt. Meine Generation nicht, die meiner Eltern nicht, die meines Sohnes ohnehin nicht. Aber auch wenn wir keine Schuld tragen so tragen wir doch Verantwortung. Verantwortung es besser zu machen, Verantwortung dafür, dass die Vergangenheit nicht vergessen wird, Verantwortung nicht wieder zu einer Nation von Rassisten zu werden, Verantwortung dafür nicht alle, die anders sind zu verdammen, nur weil ein paar Kriminelle dabei sind (gibt es auch unter Deutschen). Verantwortung nicht alle Mitglieder einer Religion zu verdammen, weil ein paar Fanatiker sind. Habt Ihr Euch je überlegt, dass diese Menschen ihre Heimat auch lieben und sie nur verlassen haben, weil es absolut nicht anders ging? Das sie gerne zurückgingen, wenn sie dort tatsächlichen leben konnten statt sich vor Raketenangriffen verstecken zu müssen. Diese Nachricht scheint bei 91% der Welt-Lesen noch nicht angekommen zu sein.
Na ja, ist vielleicht auch ein bisschen viel verlangt, sich in die Situation anderer hineinversetzen zu sollen. Alle als faule Sozialschmarotzer abzutun ist ja soviel einfacher, dann kann man sie ja auch gleich noch für alles, was im eigenen Leben schief läuft, verantwortlich machen. Ich hab als Kind gelernt, dass es nicht die Schuld des Steins ist, den ich kicke, wenn mir danach die Zehe weh tut. Gute Lektion fürs Leben und gilt so auch für viele andere Dinge.
Für mich als Expat ist es traurig, in meiner Wahlheimat dafür demonstrieren zu müssen, das junge Menschen, die als Babies oder Kinder in die USA gebracht wurden, nicht in ein Land abgeschoben werden, dass sie nicht kennen, und dann hier in meiner Heimat mit soviel Hass und Rassismus und den Rufen Menschen doch einfach nach Syrien – ins Inferno zu schicken – konfrontiert zu werden.
Anmerkung
Ich weiss, dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die keine Rassisten sind, die Flüchtlingen helfen, die gegen Rassismus kämpfen. Ihr seit natürlich hier nicht gemeint. Es scheinen aber immer mehr zu werden, die sich trauen ihren Rassismus öffentlich und stolz zur Schau zu stellen, genau wie in den USA. Das musste ich kommentieren.
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